Ausgangspunkt jeder wirtschaftlichen Tätigkeit sind (unerfüllte) Wünsche des Menschen, welche in der Betriebswirtschaftslehre Bedürfnisse genannt werden. Ein Bedürfnis ist das Gefühl eines Mangels und der Wunsch, diesen Mangelzustand zu beheben. Ein solcher Mangel kann objektiv tatsächlich vorhanden sein (z.B. eine Person friert ohne Jacke im Winter draussen) oder nur subjektiv empfunden werden (z.B. eine Person glaubt, zu wenig Anerkennung von Mitmenschen zu erhalten). Die Behebung dieses Mangelzustands stiftet einen Nutzen.
Menschen haben zahlreiche und auch immer neue Bedürfnisse. Den (fast) unbegrenzten Bedürfnissen stehen auf der Erde – im Gegensatz zu Wunschwelten wie dem Paradies oder dem Schlaraffenland – begrenzte Ressourcen gegenüber (Knappheitsproblem). Es ist den Menschen aufgrund beschränkter Mittel nicht möglich, alle Bedürfnisse zu befriedigen, oder zumindest nicht zeitgleich. Denn ein Bedürfnis muss, um es befriedigen zu können, normalerweise mit Kaufkraft ausgestattet sein. Bedürfnisse, die mit Kaufkraft ausgestattet sind, stellen einen Bedarf an Gütern dar, welcher am Markt zu einer Nachfrage führt. Die Menschen, welche auf dem Markt auftreten, werden als Kund*innen eines Unternehmens, als Konsument*innen oder als Nachfrager*innen bezeichnet.
Beispiel Fahrrad – Priorisierung der Bedürfnisse
Max Meier hat ein Einkommen von CHF 5'000 pro Monat. Nach Deckung der Wohnungsmiete und der Essenskosten verbleiben ihm noch CHF 2'000. Damit kann er entweder ein Fahrrad oder eine Ferienreise finanzieren. Max Meier entscheidet sich für das Fahrrad, weil der Mangel an Mobilität grösser ist als der Mangel an Erholung. Letztgenannter kann also nicht behoben werden respektive dessen Behebung muss auf den Folgemonat aufgeschoben werden.
2.1.1 Bedürfnisse nach deren Dringlichkeit
Aufgrund der unzähligen Bedürfnisse und der beschränkten Kaufkraft müssen Menschen bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse eine Priorisierung vornehmen. Die zahlreichen Bedürfnisse können gruppiert und in eine Rangfolge gebracht werden. Es können grundsätzlich Existenz-, Kultur- und Luxusbedürfnisse unterschieden werden.
Bedürfniskategorie |
Erläuterung |
Beispiele |
Existenzbedürfnisse |
Dienen der Selbsterhaltung und müssen deshalb zuerst befriedigt werden. |
Nahrung, wärmende Kleidung, Unterkunft |
Kulturbedürfnisse |
Sind zwar nicht existenznotwendig, aber notwendig, um am sozialen und kulturellen Leben zu partizipieren. Deren Befriedigung gehört zum allgemeinen Lebensstandard einer bestimmten Gesellschaft. Sie machen das Leben lebenswert und vermitteln so etwas wie Menschenwürde. |
Bildung, Mobilität, Kino |
Luxusbedürfnisse |
Bestehen v.a., um sich von anderen Menschen abzuheben oder sich selbst zu verwirklichen. Deren Befriedigung erfordert in der Regel ein hohes Einkommen. |
Jacht, Ferienhaus, Luxusuhr |
Tabelle 2.1: Kategorisierung von Bedürfnissen nach deren Dringlichkeit
Ob es sich bei einem bestimmten Bedürfnis um ein Existenz-, Kultur- oder Luxusbedürfnis handelt, ist nicht immer eindeutig. Dies hängt vom näheren Umfeld (Bekanntschaften) und weiteren Umfeld (Wohnland), dem Zeitpunkt und den persönlichen Wertvorstellungen ab. Viele Bedürfnisse, welche in gegenwärtig reicheren Ländern vor 100 Jahren zu den Luxusbedürfnissen gehörten, sind heute Kulturbedürfnisse. In ärmeren Ländern hingegen sind diese immer noch Luxusbedürfnisse (z.B. ein Hochschulstudium).
Maslow hat eine noch etwas detailliertere Kategorisierung der Bedürfnisse vorgenommen. Sie besagt, dass erst wenn Bedürfnisse einer unteren Stufe weitgehend befriedigt sind, der Mensch die Befriedigung von Bedürfnissen der nächsthöheren Stufe anstrebt. Oder anders formuliert: Ein auf einer höheren Stufe gelegenes Bedürfnis wird für einen Menschen erst bedeutsam, wenn ein auf einer tieferen Stufe gelegenes Bedürfnis annähernd (aber nicht zwingend vollständig) befriedigt ist.
Bedürfniskategorie |
Erläuterung |
Beispiele |
1. Physiologische Bedürfnisse |
Es geht um den gegenwärtigen Erhalt des menschlichen Lebens. |
- Sauerstoff
- Wasser
- Nahrung
- Witterungsschutz
- Schlaf
- Fortpflanzung
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2. Sicherheitsbedürfnisse |
Es geht um die gegenwärtige körperliche und geistige Integrität, jedoch auch um die Absicherung des zukünftigen Erhalts des menschlichen Lebens. |
- Schutz vor Verletzungen
(Gesetze und Polizei)
- Enkommensabsicherung
(Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung);
- Absicherung der Gesundheit (Unfall- und Krankenversicherung)
|
3. Soziale Bedürfnisse |
Es geht um die Zugehörigkeit zu und um Geborgenheit in einer Gemeinschaft. |
- Kommunikation
- gegenseitige Unterstützung, Beziehung
- Liebe
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4. Wertschätzungsbedürfnisse |
Es geht um die Achtung der eigenen Person durch sich selbst, aber auch durch andere Menschen. |
- Gefühl, für die Welt nützlich zu sein
- Stärke
- Reputation
- Prestige
- Anerkennung
- Status
|
5. Selbstverwirklichungs-bedürfnisse |
Es geht um das Ausschöpfen des eigenen Potenzials, die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit und der eigenen Fähigkeiten sowie die eigene Lebensgestaltung. |
- Talententfaltung
(z.B. im Sport, in der Kunst)
- Unabhängigkeit
|
Tabelle 2.2: Maslowsche Bedürfnishierarchie (Maslow, 1943; übersetzt aus dem Englischen durch Daniel Steingruber)
Die physiologischen Bedürfnisse und die Sicherheitsbedürfnisse können unter dem Begriff Existenzbedürfnisse zusammengefasst werden. Die sozialen Bedürfnisse können auch als Kulturbedürfnisse (Teilhabe am kulturellen Leben) bezeichnet werden. Die Wertschätzungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse können mit den Luxusbedürfnissen gleichgesetzt werden.
Die Kenntnisse der Bedürfniskategorien nach Maslow dienen einem Unternehmen intern der passenden Führung der Mitarbeitenden (siehe Tabelle 34.3 Anwendung Maslows Bedürfniskategorien auf Mitarbeitende) und extern der passenden Gestaltung der Produkte für die Kund*innen, um diesen einen möglichst hohen Nutzen zu stiften (siehe Tabelle 20.2 Komponenten des Produktnutzens).
Beispiel Fahrradunternehmen – Bedürfniskategorien
Welche Bedürfniskategorien das Fahrradunternehmen mit der Bereitstellung eines Fahrrads für seine Kund*innen adressiert, hängt stark von den Kund*innen und vom Einsatzzweck, aber auch von der konkreten Ausgestaltung des Fahrrads ab. Wenn das Fahrrad genutzt wird, um
- als Fahrradkurier ein Einkommen zu erzielen, dient dieses eher der Deckung physiologischer Bedürfnisse.
- sich fit zu halten, dient dieses eher einem Sicherheitsbedürfnis (Erhaltung der Gesundheit).
- sich mit Freunden zu treffen oder mit Freunden eine gemeinsame Fahrradtour zu unternehmen, dient dieses eher sozialen Bedürfnissen.
- dank dem wunderschönen Design die Blicke der Passanten auf sich zu ziehen, dient dieses eher einem Wertschätzungsbedürfnis.
- an einem Tag seine Grenzen auszuloten und so viele Höhenmeter zu erklimmen, wie der Mount Everest hoch ist (sogenanntes «Everesting»), dient dieses der Selbstverwirklichung.
Bei der Gestaltung des Fahrrads kann dem Bedürfnis nach Sicherheit besonders Rechnung getragen werden, wenn das Fahrrad mit guten Bremsen und Reifen sowie gutem Licht und Reflektoren ausgestattet wird, wodurch Verkehrsunfälle vermindert werden. Zudem kann durch ein ausgefallenes Design und die Montage der besten Komponenten dem Bedürfnis nach Wertschätzung Rechnung getragen werden, weil die Eigentümer*in des Fahrrads von ihren Mitmenschen Beachtung geschenkt bekommt.
2.1.2 Bedürfnisse nach deren Trägern, Gegenständlichkeit und Bewusstsein
Eine weitere Möglichkeit zur Unterscheidung von Bedürfnissen ist jene nach den Trägern.
Bedürfnisträger |
Erläuterung |
Beispiele |
Individualbedürfnisse |
Bedürfnisse, die eine einzelne Person aufgrund ihrer eigenen Entscheidung befriedigen kann. |
- Kauf eines Fahrrads
- Kauf eines Notebooks
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Kollektivbedürfnisse |
Bedürfnisse, deren Befriedigung von der Entscheidung einer ganzen Gemeinschaft abhängt. |
- Bau einer Schule
- Bau einer Strasse
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Tabelle 2.3: Kategorisierung von Bedürfnissen nach deren Trägern
Bedürfnisse können zudem auch danach unterschieden werden, ob sie auf Gegenstände oder auf Immaterielles abzielen.
Gegenstand |
Erläuterung |
Beispiele |
Materielle Bedürfnisse |
Bedürfnisse, welche auf Gegenstände abzielen, welche anfassbar sind. |
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Immaterielle Bedürfnisse |
Bedürfnisse, welche auf immaterielle Güter abzielen, welche nicht anfassbar sind und zur Befriedigung des geistigen oder emotionalen Bereichs dienen. |
- geistiges oder körperliches Wohlbefinden
- Geborgenheit
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Tabelle 2.4: Kategorisierung von Bedürfnissen nach Gegenständlichkeit
Eine weitere Möglichkeit zur Klassifizierung von Bedürfnissen ist jene nach offenen und latenten Bedürfnissen. Während die Bedürfnisträger*innen ihre offenen Bedürfnisse bewusst wahrnehmen, stellen latente Bedürfnisse unbewusste Wünsche dar, welche durch Unternehmen mit Marketingaktivitäten geweckt und damit in offene Bedürfnisse überführt werden. Bedürfnisse können also nicht nur in der Natur des Menschen wurzeln, sondern auch von der ihn umgebenden Gesellschaft, u.a. auch von Unternehmen, beeinflusst werden. Luhmann (2005, S. 261) formuliert extrem:
«Die Wirtschaft folgt nicht einer immanenten Logik des Bedarfs,
sondern der Bedarf einer immanenten Logik der Wirtschaft.»